Der Schlangenbändiger aus Rhäzüns
Lüthi weiss mit Aluminium umzugehen. Und Kupfer. Und Blech. Und vielen anderen Materialien. Als Dachdecker- und Spenglermeister sind seine Hände sein wichtigstes Werkzeug. Diese helfen ihm auch die AC Cobra flott zu halten. Das macht er allein in seiner Werkstatt. «Ich bin in einer Schmitte aufgewachsen – wir hatten viele Landmaschinen gebaut und geflickt. Das ist oft alles Handarbeit. So lernte ich auch die alte Technik – ob mit Töffli oder Autos: das alte Zeug hat mich immer fasziniert. Das Moderne interessiert mich nicht so, das verstehe ich auch weniger. Ich war immer Oldtimer-Fan», so Lüthi und ergänzt: «Die alten Autos, die laufen einfach – da musst du aber auch selbst was dran machen können. Wir waren schon zweimal in Südfrankreich und gut heimgekommen – du musst das Auto kennen, dann kannst du auch reagieren. Wenn du es regelmässig wartest, dann hörst du, und weisst, welche Reparaturen allenfalls anstehen könnten. So kann Lüthi mit seiner Frau auch mal von Südfrankreich über diverse Alpenpässe und traumhaften Kulissen auf über 2'700 Meter über Meer zurück nach Rhäzüns fahren und weiss: die Cobra wird’s schon machen.
Die schwarzsilbern farbige Kobra in Drohstellung blickt einem direkt von der Mitte des Lenkrads entgegen: ausgebreiteter Hals, markante Giftzähne, beklemmender Blick. Die Message ist klar: wer sich mit mir anlegt, der muss was draufhaben.
In Indien zeigen Schlangenbeschwörer ihr Können, indem sie die Kobra im Einklang mit der Flöte sanft hin und her schwingen lassen. Mut, Erfahrung, Risikobereitschaft – da muss wohl so einiges stimmen, bis sich einer traut, Auge in Auge einer Kobra gegenüberzusitzen. Wie bei einer echten Kobra braucht es auch für die AC Cobra einiges an Erfahrung und Mut, um sie zu bändigen. Viel Fingerspitzen- oder besser Fussspitzengefühl braucht Ernst Lüthi, damit ihm seine AC Cobra gehorcht und sich geschmeidig mal links mal rechts entlang der 76 Kurven von Langwies nach Arosa bewegt. Der Legende nach begegnete Sportwagen-Konstrukteur Carroll Shelby einst eine Schlange in seinen Träumen. Diese gab ihm die Inspiration für das Logo der AC Cobra. Ob wahr oder nicht, eines ist das ikonische Erscheinungsbild längst: legendär und weltbekannt.
An der Arosa ClassicCar startet Ernst Lüthi mit eben dieser AC Cobra. «Ein Auto, mit dem du dich in den Bergen bewegst, braucht Drehmoment», kommt Lüthi ins Schwärmen, «wenn du einen Pass hinauffährst, die Beschleunigung aus den Kurven hinaus spürst, es vibriert, dir um die Ohren zieht und du das Urchige, das Brachiale erlebst – das ist Faszination pur.»
Ernst Lüthi war schon immer begeistert gewesen von der AC Cobra, diesen unverkennbaren grossvolumigen V8-Motoren. Über einige Jahre war er lose in Kontakt mit einem potenziellen Verkäufer. Dabei ging es nicht um irgendeine AC Cobra, sondern eine, die aus erster Hand von Carroll Shelby höchstpersönlich stammte: eine AC Shelby Cobra 289 FIA, 380 PS, 4,7 Liter Hubraum, Jahrgang 1965. Irgendwann kam der Anruf – passend zu Ernst Lüthis 50. Geburtstag. Das war im Jahre 2011. Einzige Bedingung: Die AC Cobra sollte an jemanden gehen, der nicht damit handeln will, sondern sich selbst ans Steuer setzen und sie geniessen wollte. Da war der Verkäufer bei Lüthi an der richtigen Adresse. Der Kontakt der beiden hält bis heute.
Die Cobra ist das wohl bekannteste Modell des britischen Herstellers AC, ursprünglich Auto Carriers genannt. Das Unternehmen wurde 1901 gegründet. Die erste Cobra verliess 1962 die Produktionsstätte. Die für viele Jahrzehnte vorerst letzte wurde 1968 gebaut. Dazwischen wurden in verschiedenen Ausführungen insgesamt weniger als 1'000 Exemplare produziert. Im Jahr 2022 nahm AC die Produktion wieder auf. Das Ziel: eine limitierte Anzahl, stark angelehnt an das ursprüngliche Modell, doch modernisiert und angepasst für den europäischen Markt.
Wo fauchende 8-Zylinder-Motoren aus den 1960ern auftreten, da ist der Name Carroll Shelby meist nicht weit. Shelby, das Multitalent aus Texas, hat sich nicht nur als Sportwagen-Konstrukteur in den Geschichtsbüchern verewigt. Sein Name steht auch auf der Siegerliste des bekanntesten Langstreckenrennens der Welt. 1959 gewann er in Le Mans auf einem Aston Martin DBR1/300. Aus gesundheitlichen Gründen beendete Shelby seine Rennkarrieren bereits 1960 im Alter von 37 Jahren, für damalige Verhältnisse eher früh.
Jüngst zeigte der Hollywood-Blockbuster ‹Ford vs. Ferrari› den anderen Shelby – den, der vor allem schnelle Rennwagen baute. Zu Beginn der 1960er dominierte Ferrari die Rennen in Le Mans, gewann sechs Mal in Folge. Henry Ford II hatte damals gar versucht die Marke Ferrari zu übernehmen, welche sich mutmasslich in einer finanziellen Sackgasse befand. Für Enzo Ferrari kam dies nur unter speziellen Bedingungen in Frage. Bedingungen, die Ford nicht passten. Der Deal platze. Ansporn genug für Henry Ford II, sein eigenes Rennauto zu bauen – und Ferrari damit beim wichtigsten Rennen überhaupt herauszufordern. So kam Carroll Shelby ins Spiel. Seine Aufgabe: den perfekten Rennwagen für Ford zu bauen und damit in Le Mans zu gewinnen. Das Resultat: Der Ford GT40. Wie sehr Shelby dieser Aufgabe gewachsen war, das zeigte die zweite Hälfte der 1960er-Jahre. Ab 1966 gewann Ford vier Mal in Folge das 24-Stunden-Rennen in Le Mans.
Wie in einem nostalgischen Film fühlt man sich auch, wenn man als Beifahrer die AC Cobra live erleben darf. Nach dem Motto ‹weniger ist mehr› baute Shelby mit der Cobra ein Rennwagen der Superlative, einen den es so zuvor nicht gegeben hat – einen kraftvollen V8-Motor in einem Leichtbauchassis aus Aluminium verbaut. So treffen die 380 Pferdestärken auf blosse 1100 Kilogramm. Gepaart mit dem Drehmoment von 560 Newtonmeter macht dies die AC Cobra so richtig giftig. Mit 293 Km/h war sie so schnell, dass sie 1965 gar den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde schaffte als schnellstes Fahrzeug mit Strassenzulassung. Diesen Titel gab sie so schnell auch nicht mehr her.
«Diese Aluminium-Karosserien gingen ab wie die Feuerwehr. Was mich jedoch noch mehr fasziniert: in der AC Cobra ist alles roh – keine Fahrhilfen, kein ABS, kein Antischlupf oder weiss der Teufel was. Die Beherrschbarkeit dieses Autos musst du erlernen. Du brauchst einen Popo-Meter, du musst üben, das Auto zu spüren. Das ist das Wichtigste, sonst fliegst du ab», so Lüthi.
Mit dabei war damals auch Phil Louis Henny, der einzige Schweizer, der je in einem Shelby-Rennteam gearbeitet hatte und seit vielen Jahrzehnten in den USA lebt. Er stiess 1967 zum Team und arbeitete an jenem Rennwagen, der im selben Jahr in Le Mans triumphierte. «Vor ein paar Jahren durfte ich ihn kennenlernen. Er hat mir viel dabei geholfen, Ersatzteile für die AC Cobra zu beschaffen. Über ihn habe ich auch Fotos Carroll Shelby mit Originalunterschrift erhalten, die nun in meiner Werkstatt hängen», erzählt Lüthi stolz.
Neben dem Ford GT40 und der AC Cobra kennt man noch einen anderen Shelby, den Ford ‹Shelby› Mustang. Im Film ‹Gone in 60 Seconds› ist er das Prachtstück, das Nicolas Cage und Angelina Jolie als letzte grosse Aufgabe erbeuten sollten. Natürlich fährt auch dieser Shelby im so wunderbar nostalgisch blubbernden 8-Zylinder-Motor vor – einfach unverkennbar.
Lüthi und seine Cobra sieht man in der Region öfters. Man muss allerdings entweder ein Ornithologe sein oder sonst ein Flair dazu haben, morgens rechtzeitig aus den Federn zu wollen. «Meist geht’s morgens um fünf Uhr bereits los», erzählt Lüthi. Denn wer will sich schon mit einer Cobra durch den Verkehr schlängeln, da sind die leeren Passstrassen schon eher ihr Territorium. Auch in den Aroser Bergen fühlt sie sich wohl. «Die vielen Kurven sind, was diesen Event ausmachen. Wenn du sonst wie ich viele Bergstrecken fährst, wo du normaler Strassenverkehr hast und wenn du dann plötzlich eine ganze Strassenbreite zur Verfügung hast, ist das faszinierend. Hinzu kommt die ganze Kulisse, das Umfeld, der Anlass allgemein und vor allem diese faszinierende Strecke.
Neben dem Highlight Arosa ClassicCar hat Lüthi noch ein weiteres Abenteuer geplant: Die 17 Kilometer lange Strecke von Trento nach Monte Bondone, das längste Bergrennen Europas. «Dieses Rennen will ich nächstes Jahr in Angriff nehmen. Die Strecke führt durch drei, vier Dörfchen hindurch. Ähnlich wie in Arosa, einfach etwas länger.» Dann heisst es auf ein neues für Schlangenbändiger Lüthi: Auge um Auge mit der Kobra.